Pflegegrad 1 auf der Kippe: Würden Einsparungen tatsächlich 16 Milliarden Euro bringen – oder neue Kosten erzeugen?

29.09.2025 · Redaktion Pflegeverband

Einordnung: Im Zuge der aktuellen Reformdebatte wird die mögliche Abschaffung von Pflegegrad 1 als Sparmaßnahme diskutiert. Vertreter der Arbeitgeberseite haben Einsparpotenziale von rund 16 Milliarden Euro pro Jahr in den Raum gestellt. Doch stimmt diese Rechnung? Und was passiert, wenn präventive Leistungen wegfallen? Ein umfassender Überblick.

Die Kalkulation der Befürworter:

  • Wegfall laufender Leistungen: Der Entlastungsbetrag, Beratungsleistungen und Zuschüsse für kleine Hilfen würden ersatzlos gestrichen.
  • Verwaltungsvereinfachung: Begutachtungen im unteren Bedarfsspektrum entfielen, wodurch Gutachterkosten sinken.
  • Vermeidung von Mitnahmeeffekten: Kritiker sehen in Pflegegrad 1 Leistungen, die auch durch Eigeninitiative oder Nachbarschaftshilfe erbracht werden könnten.

So plausibel die Rechnung auf den ersten Blick wirkt, greift sie zu kurz. Sie ignoriert mögliche Folgekosten, die an anderer Stelle im System entstehen.

Risiken und Gegenargumente:

  • Präventionsverluste: Ohne niedrigschwellige Hilfen steigt das Risiko von Stürzen, Fehlmedikation und Vereinsamung – mit teuren Krankenhaus- und Rehaprozeduren als Folge.
  • Schnellerer Übergang in höhere Pflegegrade: Wer heute in Grad 1 stabilisiert wird, könnte morgen Grad 3 oder 4 benötigen. Das verschiebt Kosten lediglich in die Zukunft.
  • Überlastung von Angehörigen: Wegfallende Entlastungsangebote führen zu mehr Ausfällen im Beruf, höheren Krankheitsraten und damit gesamtwirtschaftlichen Kosten.

Was Studien nahelegen: Internationale Erfahrungen zeigen, dass präventive Hilfen günstiger sind als spätere Akutmaßnahmen. Schon kleine Interventionen – etwa Haushaltshilfen, Bewegungsprogramme oder Beratung – reduzieren das Risiko kostenintensiver Eskalationen. Eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung müsste diese Effekte berücksichtigen.

Politische Implikationen: Sollten kurzfristige Einsparungen Vorrang haben, könnte die Pflegeversicherung temporär stabilisiert werden. Langfristig aber droht ein Anstieg von Leistungsausgaben und gesellschaftlichen Folgekosten. Selbst Ökonomen, die eine Reform befürworten, plädieren daher für flankierende Maßnahmen, um negative Sekundäreffekte zu dämpfen.

Fazit: Die Debatte um Milliardenbeträge darf nicht losgelöst von Versorgungsrealitäten geführt werden. Pflegegrad 1 ist mehr als eine Zahl im Haushaltsplan – er ist ein Instrument zur Stabilisierung und Prävention. Ob eine Streichung tatsächlich spart, hängt davon ab, ob Ersatzmechanismen greifen. Fehlen diese, drohen höhere Ausgaben an anderer Stelle. Wirtschaftlich wie sozialpolitisch spricht vieles für eine differenzierte Betrachtung.

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