Pflegegrad 1 im Fokus: Was die deutsche Streichungsdebatte jetzt für Betroffene und Angehörige bedeutet

02.10.2025 · Redaktion Pflegeverband

Ausgangspunkt: In Deutschland wird aktuell geprüft, ob der Pflegegrad 1 in seiner heutigen Form bestehen bleibt, eingeschränkt oder ganz entfällt. Der Anlass ist banal und brutal zugleich: die Finanzierung der Pflegeversicherung steht unter Druck, während gleichzeitig der Bedarf an Leistungen steigt. Pflegegrad 1 adressiert Menschen mit geringfügiger Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Typische Bausteine sind der Entlastungsbetrag, niedrigschwellige Hilfen, Beratung und ausgewählte Zuschüsse. Für viele Familien fungiert PG 1 als Einstieg in das System und als Frühwarnsensor, der Entlastung organisiert, bevor der Pflegebedarf eskaliert.

Warum die Diskussion? Die Finanzperspektiven der sozialen Pflegeversicherung sind angespannt. Personalkosten steigen, die Zahl der Leistungsbeziehenden nimmt zu und Investitionsbedarfe in Einrichtungen sowie Wohnraumanpassungen wachsen. Vor diesem Hintergrund fordern Teile der Politik und Akteure im Umfeld der Sozialversicherung, Leistungen mit geringem Wirkungsnachweis zu bündeln oder umzuschichten. Kritiker sehen in der möglichen Streichung von PG 1 jedoch eine Scheinsparmaßnahme, die später teurer werden könnte, wenn präventive Stabilisierung wegfällt und höhere Pflegegrade schneller erreicht werden.

Pro-Argumente: Befürworter betonen, dass die Reduktion eines kleinteiligen Leistungssegments Bürokratie senken und Mittel in Bereiche mit hoher Pflegeintensität lenken könnte. Zudem wird angeführt, dass manche Alltagsleistungen auch außerhalb der Pflegeversicherung organisiert werden können, etwa über kommunale Strukturen, Nachbarschaftshilfe oder Eigenmittel. Aus Systemperspektive soll eine Fokussierung die Steuerbarkeit erhöhen und Ad-hoc-Haushaltsrisiken reduzieren.

Contra-Argumente: Gegner verweisen auf reale Entlastungseffekte im Alltag: Eine Haushaltshilfe, ein Hilfsmittel, eine Wohnraumanpassung oder eine strukturierte Beratung können Eskalationen verhindern. Wenn diese „kleinen“ Hebel entfallen oder schwerer zugänglich werden, drohen Überlastung bei Angehörigen, ungeplante Krisen und am Ende höhere Folgekosten im stationären Sektor. Zudem stehen Gerechtigkeit und Vertrauen auf dem Spiel: Leistungskürzungen im Einstiegsgrad senden ein negatives Signal an Versicherte, die auf Planbarkeit angewiesen sind.

Welche Modelle werden diskutiert? Erstens die Umwidmung: PG 1 bleibt, wird jedoch strikt auf Prävention, Beratung, digitale Assistenz und Hilfsmittel mit nachweisbarem Nutzen fokussiert. Zweitens Karenzzeiten im ersten Bezugsjahr mit klaren Härtefall-Ausnahmen, um kurzfristig Kosten zu dämpfen. Drittens strengere Begutachtung und engere Zielkriterien, damit Ressourcen treffsicher fließen. Viertens Einkommensprüfung für einzelne Bausteine, um Mittel sozial zu fokussieren. Fünftens verbindliche Übergangs- und Bestandsschutzregeln, damit aktuell Anerkannte nicht in Versorgungslücken fallen.

Praktische Konsequenzen für Deutschland: Familien sollten Beratungsangebote konsequent nutzen, Dokumentationen sorgfältig führen und präventive Effekte von Maßnahmen explizit begründen. Wer Umbaumaßnahmen plant, sollte Kostenvoranschläge, Risikoabschätzungen und Nutzenargumente (Sturzprävention, Alltagskompetenz, Entlastung der Pflegenden) strukturieren. Kommunen und Träger wiederum sind gefordert, niedrigschwellige Hilfen zu sichern, damit selbst bei Restriktionen im PG 1 keine Leere entsteht. Ohne Alternativen droht sonst die Verschiebung von Lasten in die Sozialhilfe oder in unbezahlte Angehörigenarbeit.

Einordnung: Die vollständige Streichung von PG 1 in Deutschland wäre politisch polarisierend und sozial riskant. Wahrscheinlich ist ein Umbau mit klarer Präventionsspur, strengeren Kriterien, Ausnahmen bei akuten Pflegeereignissen und verlässlichen Übergangsregeln. Ob das gelingt, hängt davon ab, ob Bund, Länder und Gemeinden die Ersatzstrukturen verlässlich finanzieren und die Umsetzung praxistauglich gestalten. Ohne echte Prävention und Beratung bleibt Kürzung Symbolpolitik.

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