Thüringen setzt auf Nachbarschaftshilfe – warum Kürzungen bei Pflegegrad 1 die helfenden Netze gefährden würden

16.10.2025 · Redaktion Pflegeverband

Ausgangslage: In Thüringen ist in den vergangenen Jahren ein breites Netz aus Nachbarschaftshelfern entstanden. Diese Personen begleiten Pflegebedürftige bei Arztbesuchen, erledigen kleine Besorgungen, leisten Gesellschaft, strukturieren den Alltag und entlasten damit Familien. Das Modell gilt als niedrigschwellige Brücke zwischen formeller Pflege und familiärer Unterstützung. Es schließt Lücken, die professionelle Dienste aufgrund von Personalengpässen oder Wegzeiten nicht immer schließen können.

Die Zahl hinter dem Prinzip: Mehrere Kassen und Landesstellen berichten von mehreren tausend registrierten Helferinnen und Helfern. Besonders relevant ist die Schnittstelle zu Pflegegrad 1: Ein großer Teil des Engagements wird über den Entlastungsbetrag refinanziert, mit dem Betroffene alltagsnahe Angebote einkaufen können. Genau hier setzt jedoch die politische Debatte an. Wird an den Einstiegsleistungen gekürzt, bricht die Geschäftsgrundlage vieler ehrenamtlich-angeleiteter oder geringfügig vergüteter Angebote weg. Für die Helfenden bedeutet das Unsicherheit, für Familien den Verlust verlässlicher Routinen.

Warum Nachbarschaftshilfe wirkt: Die Unterstützung ist flexibel, ortsnah und persönlich. Sie stabilisiert Tagesstrukturen, verhindert soziale Isolation und reduziert Krisen, die sonst teure Folgeleistungen auslösen könnten. Gerade in ländlichen Räumen ohne dichte Versorgungsnetze ist diese Form der Hilfe mehr als „nice to have“. Sie bestimmt darüber, ob Menschen zu Hause bleiben können oder unnötig früh stationär versorgt werden müssen. Aus Versorgungs- und Kostensicht sprechen viele Argumente dafür, diese Netze nicht nur zu erhalten, sondern zu stärken.

Was die Reformdebatte auslöst: Die Diskussion um eine Einschränkung von Leistungen im Einstiegsbereich verunsichert Betroffene, Helfende und Träger. Familien fragen sich, ob bewährte Angebote weiterfinanziert werden. Träger verschieben geplante Schulungen oder den Aufbau neuer Standorte. Ehrenamtliche stellen ihr Engagement infrage, wenn Perspektive und Refinanzierung unklar sind. Diese Unsicherheit ist bereits ein Schaden an sich, weil sie Kapazitäten bindet und Wachstum bremst.

Risikoabwägung: Befürworter von Kürzungen verweisen auf Einsparziele und Effizienz. Doch die Rechnung ist komplex. Fällt niedrigschwellige Entlastung weg, steigt das Risiko von Eskalationen: Überlastete Angehörige, vermeidbare Stürze oder Deprivation können höhere Pflegegrade, Klinikaufenthalte oder stationäre Aufenthalte nach sich ziehen. Der vermeintliche Spareffekt im einen Budget wird dann von höheren Ausgaben im anderen überholt.

Was jetzt konkret hilft: Erstens Planungssicherheit: Übergangs- und Bestandsschutz, die Nachbarschaftshilfe nicht über Nacht austrocknen. Zweitens Fokussierung statt Streichung: Der Entlastungsbetrag sollte auf nachweisbare präventive Wirkung, Qualifizierung der Helfenden und dokumentierte Ergebnisqualität ausgerichtet werden. Drittens regionale Steuerung: Kommunen und Land sollten Lücken identifizieren und gezielt fördern, etwa in strukturschwachen Räumen. Viertens Qualifizierung: Kurse zu Demenz, Kommunikation, Mobilisation und Selbstschutz erhöhen die Qualität und entlasten professionelle Dienste.

Thüringer Besonderheiten: Die Altersstruktur, die ländliche Prägung weiter Landesteile und die Wegzeiten im ambulanten Setting machen skalierbare Nachbarschaftshilfe besonders wertvoll. Landesprogramme, die die Koordination finanzieren, sind ein Hebel, um die Wirkung des Entlastungsbetrags zu verstärken, anstatt ihn zu ersetzen. Je klarer Rollen und Schnittstellen sind, desto geringer sind Reibungsverluste zwischen Ehrenamt, Pflegediensten und Kassen.

Fazit: Thüringens Nachbarschaftshilfe ist ein tragendes Element der Versorgungskette. Wer hier kürzt, spart kurzfristig, riskiert aber mittel- bis langfristig höhere Kosten und soziale Schäden. Sinnvoller ist, die Mittel auf wirksame, qualitätsgesicherte Angebote zu lenken, die nachweislich Stabilität schaffen. Familien brauchen Verlässlichkeit – und die beginnt mit klaren Regeln statt politischem Zickzack.

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